Die Wette (zu Papier gebracht von Dr. Watson)
Dieser Fall Sherlock Holmes – der kürzeste in seiner Praxis – ist von mir deshalb bislang nicht beschrieben worden, weil ich mich in ihm nicht völlig auskannte. Heute bedauere ich allerdings, daß ich seinerzeit keine Nachforschungen angestellt habe. Holmes Ermittlungen beruhten auf guten Kenntnissen im Schachspiel, worin er meine Fähigkeiten überschätzte. Von seiner positiven Meinung wollte ich ihn jedoch nicht abbringen.
Vielleicht habt Ihr aber mehr Ahnung vom Schach? Lest Euch die folgende Geschichte genau durch und beantwortet dann folgende Frage: Wie kam Holmes darauf, daß der Stiefsohn der Täter war?
Schickt die schriftliche Antwort an Heinzgeorg9@aol.com. Diesmal solltet Ihr auf sorgfältige und genaue Formulierungen achten, die verwendete Zeit ist zweitrangig. Es gibt maximal 30 Punkte für die Gesamtwertung des Sommer-Schachquiz zu gewinnen. Etwas weniger genaue Antworten bekommen auch etwas weniger Punkte. Zu googeln ist diese Aufgabe übrigens nicht und wenn jemand meint, das wäre leicht, so lasst Euch sagen: Vor 28 Jahren habe ich diese Aufgabe dem gesamten Schachverein schon einmal gestellt und es kamen nur 4 perfekte Anworten, aber ein Dutzend falsche bzw. unvollständige!
Viel Spass, Ihr habt ca. 2 Wochen Zeit, Euer Heinz
Los gehts:
An jenem Morgen begab ich mich mit Holmes wegen eines Dokumentendiebstahls nach Norfolk. Von dieser Fahrt in die Villa des Lord Simmons habe ich bereits erzählt, jedoch der aufmerksame Leser konnte feststellen, daß wir, obwohl bereits 9 Uhr in Norfolk angekommen, erst 11 Uhr bei Lord Simmons eintrafen. Was war während dieser zwei Stunden geschehen?
„Watson“, sagte Holmes, als wir aus dem Zug stiegen, „um den Lord aufzusuchen, ist es noch zu früh. Ich möchte deshalb meinem Collegekameraden Stanley Morton noch gern einen Besuch abstatten…“ Ich willigte natürlich ein, und wir machten uns auf den Weg. „Morton hat mir geschrieben, daß er sich mit Experimenten beschäftigt. Er glaubt, künstliche Diamanten herstellen zu können“, erzählte Holmes. „Er ist fest davon überzeugt, dem Ziel nahe zu sein. Ich habe versucht, ihn von der Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen zu überzeugen, aber leider erfolglos! .. Ah, da ist schon sein Haus!“
Die Dienerin führte uns in den hinteren Teil des Gebäudes und klopfte an eine Tür. „Sherlock, mein Freund!“ rief Morton freudig aus, als er die Tür geöffnet hatte. „Wie bin ich froh! Welch ein glücklicher Umstand, daß du heute gekommen bist! Denn gerade gestern… Du wirst übrigens gleich selbst sehen! Einen Moment, sofort… Gehen wir ins Laboratorium…“
Wir taten ein paar Schritte und befanden uns in einem großen Raum mit einer Vielzahl verschiedenster Apparaturen. „Hat Ihnen Sherlock eigentlich schon von künstlichen Diamanten erzählt? Er hält das für nutzlos vertane Zeit, aber ich werde Sie überzeugen, er wird seine Meinung jetzt ändern!“ Morton betrachtete Holmes herausfordernd. „Ich werde euch etwas zeigen, was ich seit gestern besitze.“ Mit diesen Worten zog er den Tischkasten heraus und griff hinein. Plötzlich wurde er ganz blaß, rief „Oh, mein Gott!“ und begann fieberhaft, in dem Kasten herumzukramen, bis alles zerwühlt war. Doch die künstlichen Diamanten, die er uns vorführen wollte, blieben unauffindbar, so wie die Versuchsprotokolle, die zur Wiederholung des Versuchs erforderlich wären. Morton war verzweifelt.
„Stanley, haben Sie auch nicht vergessen, daß Sie am Zuge sind?“, ließ sich plötzlich irgendwo hinter der Wand eine Stimme vernehmen. „Ich komme sofort!“ rief Morton. Wer ruft dich?“ erkundigte sich Holmes. „Das ist mein Schwiegersohn, er ist in der Bibliothek… Ich habe mit ihm Schach gespielt, und als ihr geklopft habt, habe ich gerade über meinen Zug nachgedacht.“
„Ist da noch irgendwer?“ „Ja, aber das sind nur mir nahestehende Personen.“ „Es scheint so, Stanley, daß es wirklich gut ist, daß ich gerade heute gekommen bin. Wie kann man in diesen Raum hier gelangen?“ „Nur durch die Tür, die ihr benutzt habt. Die Schlüssel besitze ich.“ „Wieviele Zimmer gibt es hier?“ „Nur zwei – das Labor und die Bibliothek.“ „Wann hast du die Diamanten das letzte Mal gesehen?“ „Etwa vor zwei Stunden. Wir waren zu viert: der Schwiegersohn, der Sohn meiner zweiten Frau, ein Neffe und ich. Wir wollten Schach spielen. Sie gingen in die Bibliothek, und ich war zurückgeblieben, um die Tür abzuschließen. Vorher schaute ich noch einmal in den Schubkasten – alles lag an seinem Platz.“ „Das heißt, der Diebstahl passierte während des Spieles?“ „Oh, ich weiß nicht, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll, Sherlock!“ flehte Mister Morton. „Das da sind alles Familienmitglieder. Soll ich irgend jemanden verdächtigen?“ „Lassen wir das erstmal, Stanley. Ich weiß es noch vom College: Am Schachbrett bist du taub und blind für alles, was außerhalb passiert. Deshalb frage ich auch nicht, wer während des Spieles die Bibliothek verlassen hat. Das werde ich selbst feststellen.“ „Aber, Sherlock“, und Morton sah Holmes mit beschwörenden Augen an, „selbst wenn du einen für schuldig hältst, bitte ich dich, so zu verfahren, daß die anderen niemals etwas davon erfahren.“ „Ich kann nicht sagen, daß du mir die Aufgabe erleichterst“, bemerkte Holmes und schaute auf die Uhr. „Erwartest du, daß ich alles herausfinde und dabei auf die Befragung des Verbrechers verzichten soll? Ja, ja! Keine Widerrede! ein Mensch, der Diamanten stiehlt, ist zweifelsohne ein Verbrecher.“
Wir betraten die Bibliothek. Morton stellte uns vor und setzte sich wieder an das Schachbrett, auf dem die Figuren noch immer in der gleichen Stellung verharrten wie bei der Unterbrechung des Spieles. Ich habe sie mir gut eingeprägt:
Doch Morton zog nicht. Es schien, als ob er etwas berechnete. In seinem Zustand war er aber kaum in der Lage, zu irgendeinem Resultat zu gelangen. Mir schien seine Stellung von Anfang an hoffnungslos, denn Weiß besaß einen Turm weniger. Bald aber fand ich heraus, daß der weiße Bauer sehr gefährlich ist… Alle erwarteten mit Ungeduld, welchen Zug Morton ausführen würde. Da erklärte Holmes plötzlich: „Gentlemen! Gerade auf dem Wege hierher haben Mister Watson und ich eine kleine Wette um zwei Pfund abgeschlossen. Mister Watson behauptet, daß man die Rochade nicht ausführen könne, wenn der König oder der Turm gezogen haben. Mit dem letzteren bin ich aber nicht einverstanden! Soweit ich mich erinnere, steht in den Spielregeln nichts vom Turm. Ist es so?“ „Mister Watson“, brach der Schwiegersohn Mortons in Lachen aus, „Sie können glauben, daß Sie der Sieger sind!“ „Selbstverständlich, wenn der Turm gezogen hat, kann man mit diesem Turm nicht rochieren“, bestätigte auch der Neffe. „Und was meinen Sie?“, fragte Holmes den Stiefsohn Mortons. „Wie denn sonst! Wenn Sie Zweifel haben, kann ich Ihnen ein Lehrbuch zeigen.“ „Watson“, wandte sich Holmes darauf an mich, „ich bekenne mich geschlagen. Die zwei Pfund sind Ihre. Ich hoffe aber, diese Summe zurückzugewinnen, wenn ich mit Ihnen wette, daß Stanley die Partie noch retten kann.“ „Diesmal haben Sie recht“ sagte der Schwiegersohn, „ein Remis ist für Weiß möglich. „Na klar“, bestätigte der Neffe, „es gibt eine Variante, bei der der weiße König nach a1 zieht und patt wird.“ „Glauben Sie ihnen nicht, Mister Holmes, „aus einem Patt wird nichts!“ rief der Stiefsohn freudig aus. „Wollen Sie sich die Wette nicht noch einmal überlegen?“ „Nehmen wir an, die Wette wäre abgeschlossen“, warf Holmes ein. „Wollen wir ein wenig zur Seite treten, um nicht zu stören“, forderte er darauf den Stiefsohn Mortons aus, ihm zu folgen.
Etwa 5 Minuten flüsterten beide dann über einem Taschenschach in einer entfernten Ecke des Raumes. Schließlich kam Holmes zurück und sagte zu dem immer noch nachdenkenden Morton: „Lieber Stanley! Leider müssen Watson und ich jetzt gehen. Übrigens hat dein Sohn eingestanden, die Wette verloren zu haben. Du bist offenbar der einzige von allen Anwesenden, der das Remis noch nicht sieht!“ Ehrlich gesagt, ich sah die rettende Variante auch nicht, schwieg aber.
„Nun, alter Knabe“, flüsterte Holmes dem uns begleitenden Morton zu, „alles ist klar: Du wirst deine Steinchen zurückbekommen, die du als Diamanten bezeichnest. Wenn es tatsächlich Diamanten sein sollten, würdest du alle Chemiker einschließlich mich damit auf die Bretter zwingen. Aber das ist nicht so einfach!“ Wir beschleunigten etwas den Schritt, denn bis 11 Uhr blieb uns nur noch wenig Zeit.
„Lieber Holmes“, fragte ich, „wozu haben Sie den Streit über die Rochade ersonnen?“ „Ich wollte mich überzeugen, ob alle in der Bibliothek Anwesenden die Rochaderegel genau kennen.“ „Und wozu brauchten Sie das? Mir ist es überhaupt unverständlich, wie Sie diese Sache ins reine gebracht haben.“ „Ganz einfach, Watson, ich habe herausgefunden, wer die Bibliothek während des Spieles verlassen hat – Jetzt liegt es auf der Hand, daß es der Stiefsohn war.“ „Aber wie sind Sie dahintergekommen?“ „Mein Gott, Watson! Ich habe ihn danach gefragt, als wir in der Ecke die Stellung analysierten!“ „Und er hat gesagt, daß er draußen war?“ „Natürlich nicht! Mit der unschuldigsten Miene erklärte er, er habe dem Spiel nicht für eine Minute die Aufmerksamkeit versagt.“ „Das heißt, die Frage hat Ihnen nichts eingebracht?“ „Nicht so schnell, Watson! Ich zeigte, wie Stanley spielen müsse, um Remis zu machen. Bestimmt haben Sie diese Variante gesehen?“ Holmes zog ein Taschenschach heraus, und ohne den Schritt zu verlangsamen, machte er die Züge: 1. b7 Lxf7+ 2. e6! Lxe6+ 3. Ka1 Kd7 4. b8D Txb8 – patt.
„Natürlich“, fuhr er fort, „hat der selbstbewußte junge Mann sofort erklärt, daß die zwei Pfund ihm gehören, weil er anstelle von 2. … Lxe6+ rochieren und gewinnen würde. Verstehen Sie nun, Watson, daß er sich damit selbst verraten hat? Schachfiguren können weder lügen noch sich irren! Mit diesen Zeugen in der Hand konnte ich ihm leicht beweisen, daß ich weiß, wer im Laboratorium war…“
Damit standen wir vor Lord Simmons Villa. Ich gab mir den Anschein, als ob ich alles verstanden hätte. Am Abend aber verbrachte ich lange Zeit am Schachbrett und versuchte dahinterzukommen. Das erwies sich jedoch leider als nutzlos. Holmes wollte ich nicht fragen, und so sind mir seine Gedankengänge bis heute ein Rätsel geblieben.
Irgendetwas stimmt doch hier nicht. Könnt Ihr mir helfen?